04 / 06 / 2018 in Karrierewelt
Denkanstöße für Leistungsschweine.
Ich heiße Judith. Als ich heute um 8:30 in die Arbeit kam, stand mein Chef in seiner Bürotür. Er winkte mir fröhlich zu und sagte: „Was für eine Freude, Sie zu sehen. Holen Sie sich doch einen Milchkaffee und starten Sie nicht gleich von 0 auf 100 in den Tag, das ist nicht gut für Ihre Nerven. Und bitte gehen Sie zeitig nach Hause, der Sommer naht und Sie wollen ihre Pflanzen ja bestimmt nicht im Dunkeln in den Garten tragen.“ Ein weißer Elefant, der mit einem rosaroten Hasen an der Leine in unseren Gängen Gassi geht, hätte mich weniger überrascht als dieser Auftritt.
Das bisschen Arbeit
Leider bin ich nach dem freundlichen Gespräch mit meinem Chef und der Tasse Kaffee in meinem Bett aufgewacht, der Wecker hatte versagt, ich verschlafen und die Realität gab mir einen kräftigen linken Haken. Es war alles wieder normal. Was für eine Erleichterung.
Die Japaner haben ein eigenes Wort für Tod durch Überarbeitung, Karô. Es ist ein eigenständiges Wort und hat nichts damit zu tun, ob jemand einen Herzinfarkt erleidet, aus dem Fenster springt oder eines Morgens einfach nicht mehr aufwacht. Karô ist eine Diagnose. Nun ist Japan ja sehr weit weg und das asiatische Volk den meisten Europäern suspekt; das muss uns nicht wirklich beunruhigen. Muss es nicht? Haben wir nicht auch schon längst eine Richtung eingeschlagen, aus der es kein Entrinnen gibt? Wir verheiligen Leistung, Wachstum und Börsenhochs. Pauschalierte Überstundenpakete nehmen wir (höchstens mürrisch) hin, Burnout ist eine abgedroschene Phrase und man findet sogar die, die stolz sind, sich für ihr Unternehmen aufzuopfern. Karô ist auch unter uns salonfähig. Ein Leben für die Arbeit – und weniger eine Arbeit, um das Leben zu bereichern.
Alles übertrieben?
Man kann alles übertreiben: Extremsport, die Debatte über ausgebrannte Arbeitnehmer oder auch den Einsatz für sein Unternehmen. Letzterer ist einem selten nicht einmal bewusst, man findet ihn „normal“ und vermutet bei sich selbst nie das, wovor Ärzte warnen. Die Ausgebrannten, das sind die in der Barbara Karlich Show, niemals man selbst. Die unzähligen rezeptfreien Mittelchen gegen Schlafstörungen und innere Unruhe aus der Apotheke kaufen nur die anderen, wahrscheinlich die aus der Barbara Karlich Show. Unseren geschwächten Gesundheitszustand betrachten wir nicht selten als Resultat des Alterns, so ist es eben. Die Gesellschaft gibt den Takt vor, wir marschieren mit, weil wir es nicht ändern können. Stimmt das überhaupt?
Eine Selbststudie
Ich habe mich selbst eine Woche lang im Büro beobachtet und kritischst auf mich geblickt. Ich persönlich hatte nie das Gefühl, keine gute Balance am Arbeitsplatz zu finden. Was für eine Illusion – hier drei interessante Anekdoten meines Feldversuchs:
- Meine erschreckendste Beobachtung war die, dass ich mich persönlich daran stieß, wie oft meine Kollegin von nebenan auf die Toilette ging. Das ist ja nicht normal, dachte ich mir, trinkt die Treibmittel? Die macht ja Unmengen mehr Pausen als ich! Frechheit.
- Ebenso unmöglich fand ich, dass ich, wenn ich wie jeden Tag vor dem Bildschirm aß, die Gabel oder den Löffel weglegte, um auf ein E-Mail zu antworten, das während meiner Nahrungsaufnahme in meine Inbox trudelte. Und bei einem E-Mail blieb es nie, es kam das nächste und dann noch eins; da war die Suppe schon längst kalt. Meine Inbox ein kaltblütiger Diktator.
- Ich habe einen Büroberuf. Beruf deshalb, weil ich mich wirklich berufen fühle, mit dem, was ich tue, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Meine Arbeitszeiten sind flexibel und obwohl es den Druck gibt, viel zu leisten, werde ich nicht wirklich kontrolliert. Trotzdem bleibe ich nach getaner Arbeit immer noch so lange sitzen wie andere, die vielleicht auch nur darauf warteten, dass ich endlich aufstehe. Mehr ist für mich anscheinend mehr. Gruppenzwang wie mit 16 im Gymnasium.
Zwischen-Fazit
Ich habe in dieser einen Woche keine beruflichen Berge versetzt. Es war eine Woche, wie wir sie alle kennen. Dennoch habe ich bei allem und jedem immer so getan, als wäre es unglaublich wichtig für mich selbst. Nach innen und nach außen. Ich bin mir zu 100% sicher, dass am Freitag absolut nichts anders gewesen wären, wäre ich regelmäßig aufs Klo, zum Mittagessen in ein Restaurant ums Eck und am Mittwoch um 17:35 nach Hause gegangen. Anscheinend will ich es so.
Ich leiste also bin ich: vor allem müde
Die Geschichte von oben mag natürlich an meiner Persönlichkeit liegen. Wir sind an allem immer ein bisschen selber schuld. Nur bin ich mit diesen sonderbaren Zügen bestimmt nicht alleine. Arbeit wird mit einem Kelomat gleichgesetzt, nur unter Druck wird der Braten auch richtig gut durch. Alles muss sofort, hier und jetzt und auf der Stelle angegangen und umgesetzt werden, Chancen müssen genutzt und Timings verbessert werden. Es geht höher hinauf, dreht sich noch schneller und bringt uns noch weiter. Wir spielen ein Spiel, indem wir alle ständig all-in gehen sollen und anscheinend auch wollen. Wir kopieren ein Verhalten, das wir gar nicht haben wollen, von Leuten, die es ebenfalls kopieren und ebenfalls nicht haben wollen. Wenn ich jetzt genau darüber nachdenke, habe ich überhaupt keine Lust, ein Kopierer oder ein Kelomat zu sein.
Ab in die nächste Therapie?
Die nächste Übertreibung: Wir brauchen nicht für alles einen Psychologen, ein halbes Jahr Auszeit auf Sri Lanka im Ashram oder eine Kombination aus drei verschiedenen Antidepressiva. Ich bin der Meinung, der Entschleunigungsmarkt dreht sich genau so schnell wie wir es in unseren Bürostühlen tun und es geht wie überall darum, zu wachsen, sein Produkt zu verkaufen und Kunden zu gewinnen. Die kleine Handbremse würde bei den meisten von uns schon reichen. Ein respektvolles Nein zu Dingen, die einen nichts angehen oder die man nicht leisten kann zum Beispiel. Eine Portion Selbstvertrauen, wenn es darum geht, sein Leben rund um den Job auch wieder einmal wichtig zu nehmen und dazu zu stehen, dass man ganz gerne einmal untätig auf der Couch sitzt und Whatsapp abdreht. Ein Flug im Monat weniger, weil man auch via Video-Konferenz seinen Senf dazugeben kann, wenn er unbedingt nötig ist. Man muss nicht lange suchen, um die kleinen Rezepturänderungen zu finden, die ein Arbeitsleben weniger voluminös machen, und am Ende dennoch einen gelungenen Kuchen auf den Tisch bringen. Die Entschleuniger schwärmen von Achtsamkeit, ich sage einfach: Augen auf und mehr Hausverstand.
Die Übertreibung ist unser großer Feind
Eine leistungsorientierte Welt hat viele Vorteile! Die Systeme funktionieren, wir sind krankenversichert, haben ein Einkommen, trinken sauberes Wasser, haben genug zu essen und leben in einem äußerst sicheren Land. Die Kombination aus Leistung, Gewinnorientierung, Verbesserung und Fortschritt sind nicht im Kern schlecht. Ganz im Gegenteil, sie ermöglichen uns ein gutes Leben. Nur, alles hat seine Grenzen und jedes System kippt, wenn wir es aus der Balance stoßen. Und an erster Stellen stehen nun einmal wir selbst. Wir haben zwar nicht alles in der Hand und unser Chef wird vielleicht nicht in der Tür stehen und uns zum Relaxen auffordern, aber wir können mit kleinen Dingen beginnen, wie mit einer entspannten Einstellung zum Toilettenbesuch der Kollegin von nebenan.
Hey, Rome was not built in a day ... anfangen kann man aber zu jeder Zeit! Und jeder Tag bringt neue Momente, die uns lehren, dass die Welt nicht untergeht, wenn man seine Suppe warm isst. Und noch etwas: Karô und Japan sind weit weg – arbeiten wir so daran, dass es auch dabei bleibt.
Bildnachweis: unsplash.com | Christopher Carson
veröffentlicht von Hannah Meister, MA BSc
Hannah sieht ihre Tätigkeit im Recruiting nicht nur als Job, sondern vielmehr als Berufung. Sie geht gerne innovative Wege, versucht Menschen zu begeistern und strotzt vor Leidenschaft und Engagement. Zudem stehen jede Menge Kreativität, Hartnäckigkeit und Einfallsreichtum auf ihrer täglichen Agenda – ganz nach der Devise: „Denken Sie Groß “.